First Class User Experience

Die feinen Unterschiede zwischen nur brauchbarer und erstklassiger User Experience

Die Nutzungserfahrung – also das Erlebnis vor, während und nach der Nutzung eines Produktes – in der analogen Welt konkret und nachvollziehbar zu beschreiben, ist an sich schon eine Herausforderung. Schwieriger wird es, wenn es um die Nutzungserfahrung eines normalen Produktes im Vergleich zu einem Premium-Produkt geht. Meist können befragte Nutzer die Erfahrung des Premium-Produktes nur als „einfach besonders“ oder „irgendwie besser“ beschreiben.


Wie schafft man es, in der digitalen Welt eine Premium-Nutzungserfahrung von Apps oder Software zu kreieren? Anders als in der analogen Welt fehlen hier schließlich viele, z. B. haptische und sensorische Erfahrungen, die eine Nutzung besser oder besonders machen. Wie gibt man seinen digitalen Produkten eine First Class User Experience?

Dieser Artikel soll Ihnen dabei helfen, diesen kleinen aber feinen Unterschied zu erkennen und Inspiration geben, wie Ihre Software noch besser werden könnte.

Es geht schon vor der Nutzung los

Was beeinflusst unsere Einstellung zu Produkten? Eine sehr große Rolle spielen Erfahrungen vor der eigentlichen Nutzung. Beim Kauf eines Autos wird unsere Einstellung dadurch geprägt, wie wir vom Verkäufer behandelt werden, die Übergabe des Autos erfolgt und welche Goodies wir in unserem neuen Auto vorfinden. Selbst Nebensächlichkeiten wie die Qualität des Papiers der Bedienungsanleitung – falls es überhaupt eine gibt – können hier eine Rolle spielen.

Bei der Abwägung, ob man eine App oder ein Programm kauft, ist es im Wesentlichen nicht anders. Auch hier werden wir beeinflusst durch offensichtliche Aspekte wie Bewertungen durch Dritte, aber mindestens ebenso stark durch Eindrücke, die wir generell von der App und dem Hersteller haben. Wie präsentiert sich die App in den Stores, z. B. in Form von Beschreibung, Screenshots und Videos? Gibt es eine qualitativ und inhaltlich gut wirkende Webseite zu App und Hersteller? Welche Möglichkeiten gibt es, um Anleitung, Hilfe und Support zu bekommen? All das sind Fragen, die uns bei der Entscheidung für oder gegen ein Produkt beeinflussen.

Mehr sehen als nur die Hauptaufgabe

Egal ob analoge oder digitale Produkte, alle verbindet, dass sie eine Hauptaufgabe haben. Ein Hammer dient zum Reinschlagen von Nägeln. Würde man sich aber darauf beschränken, gäbe es wohl kaum so viele verschiedene Arten von Hämmern. Und zahlreiche Menschen, die tagtäglich mit Hämmern arbeiten, würden nicht auf besondere, hochpreisige Premium-Produkte zurückgreifen.

Eine App stellt dem Nutzer primär Informationen zur Verfügung oder ermöglicht die Ansteuerung eines externen Gerätes. Eine pure Beschränkung auf diese Hauptaufgabe bringen Apps, die sich nur auf die Grundaufgabe beschränken. Sie tun zwar, was sie sollen, aber eben wirklich nur genau das. Daher fühlt sich deren Nutzung nicht wirklich gut an, was sich letztlich in App-Bewertung und damit indirekt in den Verkaufszahlen widerspiegelt.

Einfach etwas mehr bieten

Bleiben wir beim Beispiel eines Hammers. Natürlich gibt es hier viele Unterscheidungsmerkmale. Setzen wir mal voraus, dass zwei absolut identische zur Wahl stehen, bei einem aber eine Gürtelschlaufe gratis dabei ist. Dann stellt sich die Frage nicht wirklich, wofür sich der potentielle Käufer entscheiden würde. Extra Service oder ein Add-On ohne Mehrkosten für den Käufer entscheiden über Kauf des Mitbewerber-Produktes.

Auch bei Apps oder digitalen Diensten spielen diese Faktoren eine große Rolle. Das muss nicht unbedingt erst nach dem Kauf des Produktes passieren. So kann etwa das Anbieten von persönlichem Support selbst bei einem Gratisprodukt (vor Entscheidung zur Nutzung) wichtig sein. Rabatte bei Mehrfachkäufen oder das „Zugeben“ von Goodies können ebenfalls pro oder contra entscheiden. Grundsätzlich gilt hier, einfach etwas mehr zu bieten als der Wettbewerber. Allerdings sollte der angebotene Mehrwert auch zur Ziel- und Nutzergruppe passen.

Kleider machen Leute

Es ist nun mal eine Tatsache, dass die meisten Menschen optisch orientiert sind und zur Oberflächlichkeit neigen. Oftmals bilden wir uns einen ersten Eindruck anhand dessen, was wir sehen. Dieser erste Eindruck beeinflusst damit auch unsere Kaufentscheidung. Beim Erwerb eines recht teuren Neuwagens kann ein negativer Eindruck des Verkaufspersonals dazu führen, dass wir uns für ein anderes Produkt oder zumindest einen anderen Auto-Händler entscheiden.

Verkäufer von besonders hochwertigen Produkten treten häufig etwas schicker und besonders gepflegt auf, so dass sich der Kunde wertgeschätzt fühlt. Das Gleiche gilt für potentielle Kunden von Apps und digitalen Leistungen – ganz egal, ob es sich um ein Gratis- oder ein Kauf-Produkt handelt. Nutzer sind immer Kunden, daher sollten sie mit entsprechender Wichtigkeit behandelt werden. Das reicht vom Kundenservice bei der Reaktionszeit auf eine Frage, über die Qualität der Sprache/Übersetzung bis hin zum Anbieten von persönlichem Kontakt in Form eines Telefonats.

 

Persönlich und proaktiv

Im Premium-Segment ist es branchenübergreifend üblich, einen direkten und persönlichen Ansprechpartner zu haben. Kaufinteressenten von Premium-Produkten wird bereits während der Beratung ein persönlicher Verkaufsberater zur Seite gestellt. Bei manchen Herstellern geht es sogar so weit, dass dem Kunden der Name des verantwortlichen KFZ-Meisters, der den Einbau des Motors ins Fahrzeug verantwortet hat, bekannt ist.

Mittlerweile findet auch bei Support und Beratung für Apps und Software ein persönlicher E-Mail-Kontakt zwischen Kunden und Beratern statt. Oftmals steht dieser Ansprechpartner darüber hinaus telefonisch, im Chat oder mittels eines Messenger-Dienstes zur Verfügung. Beim potentiellen Kunden namentlich bekannt zu sein, erzeugt ein Gefühl des „persönlichen Kümmerns“. Dies bietet den Unternehmen zudem Ansatzpunkte, die Kaufentscheidung zu beschleunigen und ggfs. im Nachgang zu verbessern.

Look-AND-Feel – die Optik ist nicht alles

Schauen wir uns einen Kugelschreiber an. Dessen Hauptaufgabe ist es, zu schreiben. Dennoch gibt es günstige und teure Kugelschreiber am Markt. Eine wichtige Eigenschaft bei diesem Produkt ist neben Marke, Ergonomie und Tintensystem, wie sich das Produkt in der Hand anfühlt. Die Haptik, die Oberflächen-Beschaffenheit, die Art, wie sich die Verarbeitung anfühlt unterscheiden die Normal-Produkte von Premium-Kugelschreibern.

Zugegeben ist das haptische Fühlen von Software eher schwierig, dennoch spricht man in diesem Kontext vom so genannten Look-and-Feel. Fragt man Nutzer, was ausschlaggebend bei Apps oder Programmen ist, wird oft davon gesprochen, wie sie sich „anfühlen“. Kriterien sind hier häufig die optische Anmutung, aber auch tatsächlich gefühlte Aspekte wie die Einfachheit der Bedienung, die Verständlichkeit, die Fehlertoleranz und zur Verfügung stehende Hilfen.

Aus der analogen Welt für das Digitale lernen

Wie Sie sehen, können wir uns in der analogen Welt sehr viel bei den Anbietern und Verkäufern von Premium-Produkten abschauen.  Damit werden unsere digitalen Produkte und Dienstleistungen nicht nur besser, sondern rechtfertigen auch einen höheren Preis. Der Kunde ist bei einem Mehrwert gern bereit, etwas mehr zu bezahlen bzw. entscheidet sich bei gleichem Preis für das kompaktere Angebot.

Es kann hilfreich sein, sich in den potentiellen Nutzer und Kunden hineinzuversetzen und sich selbst zu fragen, was einen an seinem Produkt begeistert und zum Kauf bewegen würde. Diese Kunden-Perspektive ist manchmal nicht leicht – man kennt das eigene Produkt besser als jeder andere und ist davon überzeugt. Unterstützen können in diesem Kontext externe Usability Experten mit einem unabhängigen Blick auf Produkt und Rahmenbedingungen. Zudem beraten sie aufgrund ihrer Erfahrung im Hinblick auf fundierte, messbare und dokumentierte Verbesserungen des Produktes.

Armin Reuter
Januar 2020