Barrierefreiheit – passend zum weihnachtlichen Gedanken

Die meisten von uns haben, wenn man zurückschaut auf das Jahr, sehr viel Glück. Wir sind gesund, erfolgreich, zufrieden und können am Leben mit allen seinen Aspekten vollumfänglich teilnehmen. In unserem Erfolg und dem dazugehörenden Alltagsstress fällt uns oft nicht auf, dass es Menschen gibt, die auf Grund von Einschränkungen nicht in dieser glücklichen Lage sind. Im allgemeinen Sprachgebrauch reden wir hier häufig von Menschen mit Behinderungen und vergessen leider zu oft, deren besondere Bedürfnisse und Wünsche zu integrieren.

Gerade in der etwas besinnlicheren Zeiten wie der Vorweihnachtszeit stimmt es traurig, dass Menschen mit Einschränkungen auf verschiedenen Ebenen und Ausprägungen wie im Seh-, Hör-, Bewegungs- oder Denkvermögen, oft von einigen Bereichen des gesellschaftlichen Lebens ausgegrenzt werden.

In der Theorie gibt es gesetzliche Vorgaben in Deutschland, in Europa, den USA und anderen Industrieländern. Allen voran steht die UN-Konvention zu den Rechten von Menschen mit Beeinträchtigungen aus dem Jahre 2008, die eine Selbstverpflichtung der unterzeichnenden Staaten ist, dass diese beeinträchtigten Menschen umfassend integrieren in das gesellschaftliche Leben und die Einhaltung der dazu notwendigen Standards zur Barrierefreiheit und Inklussion stetig überprüfen. Diese Standards reichen von Inklusionsgesetzen, über ISO-Normen bis zu W3C Standards. In Deutschland gibt es bisher nur ein Integrationsgesetz für Behörden und öffentliche Einrichtungen. Eine Ausbreitung auf die private Wirtschaft steht jedoch bevor und hier heißt es, darauf vorbereitet zu sein.

Nun könnten wir aus unserer Perspektive sagen, dass wir doch nur Software und Apps in Design und Entwicklung machen und dieses Thema uns nichts angeht. Weit über den weihnachtlichen Gedanken der Hilfe für Schwächere hinaus sind Software anbietende Unternehmen im Sinne der Gebrauchstauglichkeit aber im Grunde verpflichtet, ihre Produkte auch für Zielgruppen mit Einschränkungen bedienbar zu machen. Nicht ganz ohne Grund gehören die Gebrauchstauglichkeit und die Barrierefreiheit der übergeordneten ISO-Gruppe 9241 an und gelten daher als Qualitätsmaßstab, den es im Sinne aller Nutzer eines Software-Produktes zu erfüllen gilt. Einfach gesprochen brauchen wir also nur unsere Nutzergruppen, auf die sich die Software bezieht, um Menschen mit Einschränkungen zu erweitern und die Gebrauchstauglichkeit des Softwareproduktes an diesen, im Rahmen von entsprechenden Tests, überprüfen. An dieser Überprüfung werden viele Lösungen scheitern – auch unsere. Wenn man das Scheitern festgestellt hat, dann gilt es zu korrigieren, besser aber noch vorher entsprechend zu gestalten bzw. zu implementieren.

Um aufzuzeigen, dass es durchaus möglich ist, Softwarelösungen und Apps barrierefrei zu gestalten, haben wir für Sie hier die wichtigsten Schritte aufgeführt und beschrieben:

1. In Planung und Anforderungen Accessibility frühzeitig vorsehen

a) Notwendigkeit und Wert erkennen
Die Stakeholder und das Projektteam müssen davon überzeugt werden, dass durch Barrierefreiheit ein Mehrwert für den Anbieter entsteht. Neben dem moralischen Gewinn lassen sich hiermit neue Zielgruppen erschließen und letztendlich Produkte besser verkaufen.

b) In der Konzeptionsphase
Sei es User Experience Konzept oder IT-Fachkonzept, Produktbacklog oder Businessplan im Rahmen des Produktmanagements – Nutzer mit Beeinträchtigungen als sind Nutzergruppe vorzusehen und die Anwendung in ihrem Sinne zu definieren.

c) Grad der anvisierten Barrierefreiheit festlegen
Beeinträchtigungen können in verschiedener Form auftreten. Von der Unfähigkeit Farben zu sehen bis hin zur kompletten Lähmung. Nicht für alle Software-Produkte macht es Sinn, die komplette Bandbreite an Barrierefreiheit anzubieten. So wie Blinde nur selten Bildbearbeitungssoftware bedienen, wird kein Tauber Zugriff auf eine Musikdatenbank nehmen. Aber warum sollte man nicht versuchen, Nachrichten aus RSS Feeds Blinden zur Verfügung zu stellen? Wieso Videos nicht untertiteln? Der Grad der angestrebten Barrierefreiheit ist frühzeitig festzulegen, um Nachkorrekturen und Mehrkosten zu vermeiden.

d) In der Zeit und Kostenplanung als Faktor vorsehen
Aussagen wie „Oh, das ist aber teuer“ sind kurzsichtig und unüberlegt. Wer frühzeitig Barrierefreiheit für sein Produkt anvisiert, hält die Kosten und Zeitaufwendungen gering. Genau wie die Programmierung von Funktionen, zieht Barrierefreiheit auch Kosten nach sich, die auf die gleiche Art und Weise wie Funktionen kalkuliert werden können.

e) Anforderungen entsprechend schreiben
Für die Umsetzung der anvisierten Punkte, macht es absolut Sinn, die dazugehörigen Anforderungen oder User Stories so zu erfassen, wie man es mit all den Funktionen tut, welche die Software später haben soll. Barrierefreiheit verdient dabei mindestens eine User Story.

2. Universal Design

a) Einfaches Design
Das User Interface Design sollte durch Klarheit und Einfachheit bestechen. Jeder unnötige Puderzucker kann dabei Barrierefreiheit verhindern. Das Besondere kann sicher vorgesehen werden – aber erst nachdem sichergestellt ist, dass der Standard in der Benutzerführung gut funktioniert. Daher ist immer das Prinzip KISS – Keep it simple and stupid – im Auge behalten.

b) Einhaltung von Standards
So verführerisch wie besonderes Design ist, verhindert es teilweise die Umsetzung von Barrierefreiheit. Daher ist es wichtig, beim User Interface Design, erst mal auf gute Standards zu setzen. Standards verhindern dabei nicht die Regeln guter Gestaltung, sondern unterstützen sie.

c) Einfache Sprache
Klarheit und Einfachheit in der Sprache unterstützen nicht nur beeinträchtigte Menschen optimal. Wie schon Einstein sagte: „Die wahre Genialität liegt darin, Kompliziertes einfach auszudrücken.“ Täuschen Sie keine besondere Eloquenz vor, sondern helfen Sie mit einfacher Sprache, verstanden zu werden.

d) Mehrere Sinne ansprechen
Von universellem Design darf man dann reden, wenn mehrere Sinne angesprochen werden. Eine optimale Kombination ist bei JEDEM relevanten UI-Element, eine Kombination aus mindestens Wort und Bild, im Grunde sogar mit Ton. Wort und Bild ist dabei nicht so schwer umzusetzen, Ton dagegen schon schwieriger. Je nach Basisquelle des Mediums muss immer in die eine oder andere Richtung „übersetzt“ werden. Also heißt es, Textbuttons mit Icons vorsehen, Infografiken auch textuell für die Tonsequenz ergänzen und Filme mit einer lesbaren Untertitelspur versehen.

e) Nutzung von Hilfstechnologien vorsehen
Besonders das Interaktionsdesign muss frühzeitig einplanen, an welcher Stelle assistierende Techniken zum Tragen kommen. Dabei reicht es nicht zu sagen, dass es für Blinde ja diese Fühl-Tastaturen gibt. Der Fluss der Bedienung muss absolut schlüssig konzipiert sein im Zusammenspiel mit den geläufigen Hilfstechnologien und in optimaler Weise sogar durch einen Prototypen belegt werden.

3. Technische Umsetzung unter Einsatz von Hilfstechnologien

a) Keyboard-Steuerung und Fokus
Menschen mit Beeinträchtigungen bedienen Software auf spezielle Weise – z. B. stark über die Tastatur. Wer seine Software von Hause aus für eine saubere Tastatur-Bedienung optimiert durch entsprechende Reihenfolgen der Bedienelemente und Ansteuerbarkeit über Tabbing hat schon die halbe Miete erzielt. Das Folgen des Interaktionsfokus über den Focus Visual Style und dessen Anbindung ist der zweite der Teil halben Miete.

b) High Contrast Varianten
Menschen mit eingeschränktem Sehvermögen kann man unterstützen, indem man es ihnen ermöglicht, High-Contrast-Varianten der Software in Hell und Dunkel anzuzeigen. Dafür müssen integrierte Bilder in entsprechende Varianten vorliegen und farbangepasste Themes vorgesehen werden.

c) Anbindung der Sprachausgabe über UI-Automation
Hat man zum Ziel, das User Interface und dessen Inhalte für Blinde zugängig zu machen, in dem die Inhalte und Interaktion einer Applikation dem Blinden mit einem Screenreader wie z. B. dem Narrator vorgelesen werden, ist das in der Applikation selber auch vorzusehen. Die Technik heißt UI-Automation. Hier wird jedes relevante UI-Element mit einem Tag, entsprechend sinnvollen Ausgabetexte und im Code entsprechende Aktivierungen vorzusehen.

d) Vorsehen von alternativen Eingabe-Medien
Gibt es noch weitere alternative Eingabe- bzw. Ausgabe-Geräte, müssen diese eingeplant und angebunden werden. Das können klassische Medien zur Unterstützung von beeinträchtigten Menschen sein, aber auch neue Geräte wie z. B. die Kinect zu Mischung von Gestenerkennung und Sprachausgabe. Natürlich ist nicht zu erwarten, dass hier alles von selber passiert, sondern nur dadurch, dass diese Geräte angebunden werden.

4. Zielerreichung überprüfen

a) Tools und Tricks zur Überprüfung schon beim Entwickeln nutzen
Zur Unterstützung des Entwicklers gibt es ein paar nette kleine Tools, die auch in Visualstudio schon integriert sind. Diese liefern textuelle Informationen darüber, was ein Blinder vom UI hören wird. So wird eigene Entwicklungsleistung schneller nachvollziehbar und man muss nicht immer den Narrator anwerfen. Auch hilft es, selber mal die Themes umzustellen in den Systemeinstellungen unter „Accessibility“.

b) Testmethoden ähnlich wie bei Usability-Tests
Wenn man Barrierefreiheit als Sicherstellung der Gebrauchstauglichkeit für erweiterte Nutzergruppen versteht, kann man die Prüfkriterien von Usability nach der ISO 9421-110 einfach übertragen auf eben diese Nutzergruppen und so anwenden.

c) Usability-Tests mit Teilnehmern aus den beeinträchtigten Nutzergruppen
Optimal findet man die Defizite der eigenen Software heraus, wenn man Menschen mit entsprechenden Beeinträchtigungen an die Software setzt und dann beobachtet, ob die Personen damit klarkommen. Kann ich als beeinträchtigter Mensch die Aufgaben, die ich mittels der Software erledigen soll in meinen Alltag, effizient und effektiv erledigen – auch wenn ich wenig oder nichts sehe? Nein? Dann fehlt noch etwas in der Software und nicht beim Nutzer.

5. Kommunizieren

a) Häkchen „Assessible“ bei Store-Publikation setzen
Wenn man sich die Mühe gemacht hat, seine Apps barrierefrei auszugestalten und zu entwickeln, dann ist es unbedingt nötig, das dem Windows Store mitzuteilen, damit die entsprechenden Suchmechanismen wirksam werden. Über das Setzen des entsprechenden Häkchens macht man so seine App zugängig für Menschen mit Beeinträchtigungen, erschließt eine weitere Zielgruppe und wird erfolgreicher im Ranking im Store.

b) Über ergänzenden Medien informieren
Im Normalfall bewirbt man seine Software-Produkte – egal ob Desktop-Software oder Apps – damit sie ihren Weg zum Käufer und Endanwender finden. Auf den entsprechenden Werbemedien sollte nach dem Prinzip „Gutes tun und darüber reden“ natürlich auch die Barrierefreiheit der Lösung Erwähnung finden. Das kann über die Website aber natürlich auch über anhängige Printprodukte passieren.

c) Information an zentrale Stellen geben zur Weitergabe an Betroffene
In Deutschland gibt es viele Organisationen, die sich um Barrierefreiheit bemühen. Federführend ist die Aktion Mensch, die z. B. eine Liste mit barrierefreier Software, Apps und Websites führt. Dort kann man seine barrierefreien Applikationen als Empfehlung eintragen lassen. Weil wir das Thema Barrierefreiheit vorantreiben möchten, durfte sich die Aktion Mensch dieses Jahr über unsere Weihnachtsspende freuen. Wir hoffen, dass dieser ausführliche Beitrag vielleicht anhält, gerade in der Weihnachtszeit auch mal an Benachteiligte zu denken. Das gilt natürlich vor allem, wenn mit geringem Planungsaufwand ein großer Erfolg erzielt werden kann.

Sie haben Fragen zur Integration von Accessibility Standards in Ihre Software-Projekte?
Nehmen Sie mit uns Kontakt auf, wir beraten Sie gern.

Peggy
Leiterin Design Unit und Usability Engineer bei HeiReS